Donnerstag, 24. Oktober 2013

Königliche Republik - von Annemarie Nikolaus

Man sollte es ja tunlichst vermeiden, wenn man ein Buch beginnt, als erstes die letzte Seite aufzuschlagen. In diesem Fall wäre es sehr hilfreich gewesen. Denn dort befindet sich ein Link zu Annemarie Nikolaus' Blog. Die Autorin nennt ihn Annes-Werke und Werkstatt-Blog und auf dieser Seite befinden sich eine Reihe Informationen zu den geschichtlichen und kulturellen Hintergründen der Personen in diesem Roman. Vielleicht wären mir dann einige Handlungen klar geworden. Für eine lange Weile blieben für mich die Motivationen und Reaktionen der einzelnen Personen stattdessen im Dunkeln.

Zunächst war ich aber damit beschäftigt, für mich einen passenden Leseduktus zu finden. Nach den ersten 15 Seiten hatte ich mich darauf eingestellt, dass ich die Geschichte aus der Sicht des 15-jährigen Mädchens Mirella erzählt bekomme. Da ist diese große Welt und die spannende Liebe und da ist der große Bruder Dario, der was im Schilde führt - allerdings erfährt man nicht was, solange Mirella nicht dabei ist.
Dann versuchte ich mich auf die Sprache der alten Sissi-Filme einzulassen, was mir auch eine Weile gelang. Die kleine Mirella ist sehr quirlig und aufgeweckt, steckt voller Leidenschaft und Neugierde und weiß Freund und Feind um den Finger zu wickeln. Schon bald konnte ich die Figuren so mit der vertrauten Sprachmelodie alter Heimatfilme sprechen hören.
Mehr und mehr entpuppte sich Mirella aber zu einer Art Pipi Langstrumpf, die alles kann in einer Welt von Erwachsenen, die wiederum nichts können und keine Ahnung haben. So ist es nach etwa der Hälfte des Romans nicht der Vater, der zum Dogen geht, um seinen Sohn aus dem Gefängnis zu holen, nein, das macht die pfiffige Mirella ganz allein.

Doch zuvor bietet sie sich ihrem Bruder als Boten für seine heimliche Korrespondenz mit irgendjemandem an, was der zunächst vehement ablehnt, dann aber doch bedenkenlos akzeptiert. So beginnt sie, sich für die politischen Dinge in ihrer Heimat zu interessieren. Fürchterlich viel versteht sie davon noch nicht, so dass man, da es keine Szene ohne Mirella gibt, durch die der auktoriale Erzähler dem Leser die Möglichkeit für Erklärungen und Orientierung hätte geben können, stets selbst nur auf ihrem Wissensniveau bleibt. Damit sie aber zum Erstaunen ihrer Zuhörer und Gesprächspartner als kluges und politisch gebildetes Mädchen daher kommt, wissen die anderen noch weniger als sie. Der Vater weiß eigentlich gar nichts und kümmert sich auch nicht darum, Mirella muss ihm alles sagen, so wie die schlaue Pippi eben. Und die Mutter verbietet politische Gespräche am Tisch, was mit der Zeit zu einem Running Gag wird. Mit diesem literarischen Schachzug vermeidet man aber auch, irgendwelche Erklärungen abgeben zu müssen. Die gibt es ja schließlich schon in Annes Werkstatt.

Irgendwann aber entwickeln sich die Figuren, ein wenig. Pippi Langstrumpf passte nicht mehr überall, so dass ich den Erzählstil von da an einfach geschehen ließ. Ich hatte mich zwischenzeitlich daran gewöhnt. Einzig die Schreib- und Tippfehler oder unvollendete Korrekturen ärgerten mich noch hin und wieder.
Doch zurück zur Geschichte. Die Mirella ist also ein vorwitziges Ding. Ihre Hauptinteressen neben der Politik,  sind der Tanz und die Bälle im Dogenpalast, zu dem die reiche Patrizierfamilie der 15-jährigen jederzeit Zugang haben, außer dem Vater, deswegen muss Mirella Langstrumpf die Verhandlungen mit dem Dogen führen. Aber das hatte ich schon erwähnt. Die bürgerliche Patriziertochter  kommt auch regelmäßig in den Dogenpalast, um dort Billard zu spielen. Sie darf dort ein- und ausgehen, weil sie ja Scandores Tochter ist, den Bruder aber muss sie unter einem Vorwand einschleusen, weil er ja nur ein Bürgerlicher ist. Dass sie eine Patriziertochter ist und eben doch keine Pipi Langstrumpf, die ja stets auf der Seite der Schwächeren stand, merkt man aber doch daran, wie sie mit dem Hausmädchen Gina umgeht. Wenn Mirella kommt, muss alles andere stehen und liegen bleiben.

Nun da Mirella also ein bisschen was von Politik versteht, gefallen ihr diese Unruhen gar nicht. Es gibt deswegen nur noch Kohl. Dabei will sie endlich mal wieder einen Gänsebraten. Zum Glück überlässt ihr Albert de Grignoire, ein Chevalier aus dem Gefolge des Dogen, eine Gans und man darf miterleben, wie ihr das Genick gebrochen wird.
Mariella mag generell Tiere nicht so gern. Ratten natürlich auf keinen Fall, aber selbst Katzen sind beißende und kratzende Viecher, die man vertreiben sollte. Aber es wäre ungerecht, nicht zu erwähnen, dass Mirella in einer Szene den Katzen vom Hof etwas zu essen hinstellt. Ja, auch ein historischer Roman kann ein modernes Sendungsbewusstsein in sich tragen.

Dafür aber liebt Mirella eben den Tanz. Und wie sehr sie den Tanz liebt und wie sehr sie für ihren Tanz auf den Bällen von den Umherstehenden bewundert und überall wieder erkannt wird, erkennt man an dieser ausführlich erzählten Szene:
Nach zwei artigen Schreittänzen winkte Maestro Giovanni Trabaci die Flöten und das Tambour zu sich. Das Orchester begann eine Tammuriata zu spielen.
Mirella warf sich Dario mit einer übermütigen Drehung in die Arme: Das war ihr Tanz. Nach kaum einer Minute wichen die anderen Paare eines nach dem anderen an den Rand des Ballsaals zurück. Dario ließ Mirella los und überließ ihr alleine die Tanzfläche. Sie reckte den Kopf noch höher, raffte ihre Röcke bis über die Knöchel und gab dem Kapellmeister einen Wink. Maestro Trabaci nickte mit einem breiten Grinsen und ließ ein wenig schneller spielen. Die ersten Locken rutschten aus Mirellas kunstvoll hochgesteckter Frisur auf ihre Schultern und eine silberne Haarnadel fiel leise klirrend auf den Marmorboden.
Dann war der Tanz zu Ende. Mirellas lachte vergnügt und drehte sich noch einmal. Ihre Wangen hatten sich erhitzt, aber ihr Atem ging gleichmäßig wie zuvor.

Jedenfalls ist Dario immer wieder zu irgendwelchen geheimen Treffen verschwunden, von denen man nichts erfährt. Den Vater interessiert das nicht sonderlich, aber Mirella macht sich fürchterliche Sorgen, weil dadurch die Hochzeit zwischen ihrem Bruder und ihrer besten Freundin Stefania platzen könnte. Außerdem soll Dario Verantwortung übernehmen, denn schließlich ist Stefania schwanger. Das weiß zwar nur Mirella, aber eigentlich wissen's doch alle, besonders die Mutter. Die macht im Übrigen die größte Entwicklung durch, denn zum Schluss weiß sie alles, was auch die auktoriale Erzählerin weiß, wie auch alle anderen Figuren in der Schlussszene.
Dario ist jedenfalls der Bösewicht, denn nachdem er verraten wurde, weil er woanders lang ritt als sonst, schwört er Rache. Er will seine Eltern und die Eltern seiner Verlobten und Mirella und alle sonstigen Besucher der Ostermesse in der Kirche in die Luft sprengen. Zum Glück hat Mirella vorher schon alles herausbekommen. Aber was danach passiert, will ich noch nicht verraten.            

Mirella ist fürchterlich verliebt in den jungen und hübschen Alexandre, der immer zur rechten Zeit da ist, aber eigentlich nichts von ihr wissen will. Dennoch lässt sie sich von ihm retten, als sie nach dem vereitelten Anschlag in einer Taverne verschwindet, um den Leuten dort zu sagen, was sie alles weiß. Erst wissen die Leute gar nicht, wer sie ist,  aber dann wissen sie es doch und nehmen sie gefangen.
Ihre Eltern lassen gleich nach ihr suchen. Doch Christina, die mit der Patrizierfamilie nichts zu tun hat, weiß sofort wo Mirella zu finden ist und schickt Alexandre, weil der glücklicherweise überall ist, wo man ihn braucht, um sie zu retten. Mirella fragt Alexandre, ob er sie zu seiner Hochzeit in Frankreich einlädt, nachdem sie erfährt, dass die Franzosen Neapel wieder verlassen wollen.

Und dass die Franzosen überhaupt in Neapel waren kam so:
Neapel wird ja von Spanien regiert, aber das Volk ist unzufrieden mit der Gabelle, deswegen zünden sie das Tuchlager von Mirellas Familie, den Scandores an, weswegen Dario diese heimlichen Sachen macht (wie man mittlerweile weiß, plant er den Anschlag auf seine Eltern, Mirella und alle anderen außer Stefania). Dann kommen die Franzosen und ihr Anführer De Guise wird zum Dogen ernannt.  Das stört die Spanier aber zunächst nicht weiter. Denn erst mal gibt es einen Ball und Mirella weiß nicht, was sie anziehen soll. Außerdem hat Mirella während der offiziellen Ernennung De Guise zum Dogen Alexandre zum ersten Mal gesehen.

Abschließend möchte ich sagen, dass ich es zum einen schade finde, dass man die Geschichte ausschließlich aus Mirellas Sicht erlebt. Die auktoriale Erzählweise bietet es ja an, auch in die Geschichten der anderen Figuren einzusteigen. Ich wäre zu gern mal bei einem von Darios Geheimtreffen dabei gewesen oder hätte den dubiosen Strippenzieher Annese besser kennen gelernt oder etwas von den Kämpfen zwischen den Spaniern und Franzosen mitbekommen. Stattdessen erfährt man das alles nur aus zweiter Hand bzw. durch Mirellas Mund und durch das entfernte Donnern der Kanonen, wie in einem Theaterstück.

Zum anderen hätte ich mir einige Erklärungen zu den Besonderheiten aus der Zeit doch gern schon im Buch über die Erzählung gewünscht. In Historienromanen ist es zudem nicht unüblich, auch mal Fußnoten zu benutzen. Zumindest um ein paar italienische Begriffe zu erläutern. 
Aber auch ein paar Sachverhalte hätten mich genauer interessiert. So geht zum Beispiel die Fensterscheibe einer Kutsche zu Bruch. Wenn es damals schon Fensterscheiben bei Kutschen gab, hätte ich gern mehr darüber gewusst, denn ich halte es für etwas Besonderes.
Auch hätte mich interessiert, wie Weihnachten zur Zeit der königlichen Republik aussah. Wie wurde dieses Fest damals in Italien gefeiert? Einen Weihnachtsbaum gab es wohl nicht. Aber machte man sich Geschenke oder ist das eine Erfindung der Moderne?  Gab es den Heiligen Abend und die beiden Weihnachtsfeiertage? Und kam damals am 6. Januar schon die Befana?
Es mag zwar manchen abschrecken, zu viele Beschreibungen lesen zu müssen, aber ich finde, das gehört zu einem historischen Roman unbedingt dazu. Ich möchte eintauchen in eine unbekannte Welt und mich dabei von den Beschreibungen verwöhnen lassen.
Das gilt vor allem für den Tanz und die Musik, wenn es schon Mirellas große Leidenschaft ist. Wenn ich sie aber weder hören noch sehen kann,  dann will ich sie zumindest durch ihre Beschreibung erleben. Dass ich nach Tammuriata googeln muss, genügt mir nicht.

Bei einem Maskenball zum Mardi Gras, zu dem der Doge die Scandores einlädt, sind die Gäste auch als Türken, Chinesen oder Bären verkleidet. War das üblich im 17. Jahrhundert? Auch dass man überhaupt an Fasching-Dienstag Bälle veranstaltete und dass der Faschings-Dienstag in Neapel Mardi Gras genannt wurde (wahrscheinlich durch die Franzosen)?
Für Venedig ist das ja ganz gut dokumentiert. Dort feierte man ab dem giovedi grasso (Schmutziger Donnerstag) und trug vor allem die klassischen Masken, die bestimmte Typen aus dem Volk repräsentierten, wie den Harlekin mit seinem Flickenanzug, die schlaue Colombina, der einfallsreiche Diener Brighella,  die Pulcinella (mit einem Fragezeichen aus Makkaroni), der eitle Dottore oder der prahlerische Capitano.

Dann gibt es noch eine Szene, bei der ich mir gewünscht hätte, mehr darüber zu erfahren, wie weit diese Kultur im 17 Jahrhundert vorangeschritten war und wie sie zu dieser Zeit gepflegt wurde: Das Kaffeetrinken.
In dieser Szene gehen während des Prozesses gegen Dario die Scandores in einer Gerichtspause mit dem Avvocato essen. Der winkt nach dem Essen in einem Satz nach dem Kellner, ihm noch einen Kaffee zu bringen.
War es 1648 schon üblich, dass es nach dem Essen - so wie heute direkt im Gasthaus - noch einen Kaffee gab? Oder ist man dafür in besondere Kaffeehäuser gegangen? Und sagte man einfach ‚Kaffee‘ oder wie hieß er damals? Gab es schon Espresso und Cappuccino oder trank man ihn noch ganz traditionell wie einen Mokka mit viel Zucker?

Ich hätte auch gern mehr über das Verhältnis zwischen Bürgern und dem Adel erfahren. Mirella erzählt einmal, wie sie ihre Freundin Stefania zur Schule abgeholt hat. Wie frei konnten sich Patriziertöchter damals bewegen? War es normal, dass sie zu einer Schule gingen? War es normal, dass sie im Dogenpalast Billard spielen gingen? Und war es dann normal, dass Mirella sich nicht ohne Kutsche und dessen Fahrer in der Stadt blicken lassen konnte und durfte?

Annemarie Nikolaus ist Historikerin. Das merkt man ihrem Blog an. Ich habe dort noch einiges über die „Königliche Republik“ nachlesen können. Den Rest muss ich dann mal googeln…
Ansonsten war ich sehr überrascht, dass die „Königliche Republik“ von Quindie zum besten Buch des Monats gewählt wurde.

HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH!!!

Die "Königliche Republik" bei Amazon

Historische Hintergründe in Annes Werkstatt


PS: Diese Rezension wurde in Übereinstimmung mit der Autorin veröffentlicht.

...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen