Man sollte es ja tunlichst vermeiden, wenn man ein Buch
beginnt, als erstes die letzte Seite aufzuschlagen. In diesem Fall wäre es sehr
hilfreich gewesen. Denn dort befindet sich ein Link zu Annemarie Nikolaus' Blog.
Die Autorin nennt ihn Annes-Werke und Werkstatt-Blog und auf dieser Seite
befinden sich eine Reihe Informationen zu den geschichtlichen und kulturellen Hintergründen
der Personen in diesem Roman. Vielleicht wären mir dann einige Handlungen klar
geworden. Für eine lange Weile blieben für mich die Motivationen und Reaktionen
der einzelnen Personen stattdessen im Dunkeln.
Zunächst war ich aber damit beschäftigt, für mich einen passenden
Leseduktus zu finden. Nach den ersten 15 Seiten hatte ich mich darauf
eingestellt, dass ich die Geschichte aus der Sicht des 15-jährigen Mädchens
Mirella erzählt bekomme. Da ist diese große Welt und die spannende Liebe und da
ist der große Bruder Dario, der was im Schilde führt - allerdings erfährt man
nicht was, solange Mirella nicht dabei ist.
Dann versuchte ich mich auf die Sprache der alten
Sissi-Filme einzulassen, was mir auch eine Weile gelang. Die kleine Mirella ist
sehr quirlig und aufgeweckt, steckt voller Leidenschaft und Neugierde und weiß
Freund und Feind um den Finger zu wickeln. Schon bald konnte ich die Figuren so
mit der vertrauten Sprachmelodie alter Heimatfilme sprechen hören.
Mehr und mehr entpuppte sich Mirella aber zu einer Art Pipi
Langstrumpf, die alles kann in einer Welt von Erwachsenen, die wiederum nichts
können und keine Ahnung haben. So ist es nach etwa der Hälfte des Romans nicht
der Vater, der zum Dogen geht, um seinen Sohn aus dem Gefängnis zu holen, nein,
das macht die pfiffige Mirella ganz allein.
Doch zuvor bietet sie sich ihrem Bruder als Boten für seine
heimliche Korrespondenz mit irgendjemandem an, was der zunächst vehement
ablehnt, dann aber doch bedenkenlos akzeptiert. So beginnt sie, sich für die
politischen Dinge in ihrer Heimat zu interessieren. Fürchterlich viel versteht
sie davon noch nicht, so dass man, da es keine Szene ohne Mirella gibt, durch
die der auktoriale Erzähler dem Leser die Möglichkeit für Erklärungen und
Orientierung hätte geben können, stets selbst nur auf ihrem Wissensniveau
bleibt. Damit sie aber zum Erstaunen ihrer Zuhörer und Gesprächspartner als
kluges und politisch gebildetes Mädchen daher kommt, wissen die anderen noch
weniger als sie. Der Vater weiß eigentlich gar nichts und kümmert sich auch
nicht darum, Mirella muss ihm alles sagen, so wie die schlaue Pippi eben. Und
die Mutter verbietet politische Gespräche am Tisch, was mit der Zeit zu einem
Running Gag wird. Mit diesem literarischen Schachzug vermeidet man aber auch,
irgendwelche Erklärungen abgeben zu müssen. Die gibt es ja schließlich schon in
Annes Werkstatt.
Irgendwann aber entwickeln sich die Figuren, ein wenig.
Pippi Langstrumpf passte nicht mehr überall, so dass ich den Erzählstil von da
an einfach geschehen ließ. Ich hatte mich zwischenzeitlich daran gewöhnt.
Einzig die Schreib- und Tippfehler oder unvollendete Korrekturen ärgerten mich noch
hin und wieder.
Doch zurück zur Geschichte. Die Mirella ist also ein
vorwitziges Ding. Ihre Hauptinteressen neben der Politik, sind der Tanz und die Bälle im Dogenpalast,
zu dem die reiche Patrizierfamilie der 15-jährigen jederzeit Zugang haben, außer
dem Vater, deswegen muss Mirella Langstrumpf die Verhandlungen mit dem Dogen
führen. Aber das hatte ich schon erwähnt. Die bürgerliche Patriziertochter kommt auch regelmäßig in den Dogenpalast, um
dort Billard zu spielen. Sie darf dort ein- und ausgehen, weil sie ja Scandores
Tochter ist, den Bruder aber muss sie unter einem Vorwand einschleusen, weil er
ja nur ein Bürgerlicher ist. Dass sie eine Patriziertochter ist und eben doch
keine Pipi Langstrumpf, die ja stets auf der Seite der Schwächeren stand, merkt
man aber doch daran, wie sie mit dem Hausmädchen Gina umgeht. Wenn Mirella
kommt, muss alles andere stehen und liegen bleiben.
Nun da Mirella also ein bisschen was von Politik versteht,
gefallen ihr diese Unruhen gar nicht. Es gibt deswegen nur noch Kohl. Dabei will
sie endlich mal wieder einen Gänsebraten. Zum Glück überlässt ihr Albert de
Grignoire, ein Chevalier aus dem Gefolge des Dogen, eine Gans und man darf
miterleben, wie ihr das Genick gebrochen wird.
Mariella mag generell Tiere nicht so gern. Ratten natürlich
auf keinen Fall, aber selbst Katzen sind beißende und kratzende Viecher, die
man vertreiben sollte. Aber es wäre ungerecht, nicht zu erwähnen, dass Mirella
in einer Szene den Katzen vom Hof etwas zu essen hinstellt. Ja, auch ein
historischer Roman kann ein modernes Sendungsbewusstsein in sich tragen.
Dafür aber liebt Mirella eben den Tanz. Und wie sehr sie den Tanz liebt und
wie sehr sie für ihren Tanz auf den Bällen von den Umherstehenden bewundert und
überall wieder erkannt wird, erkennt man an dieser ausführlich erzählten Szene:
Nach
zwei artigen Schreittänzen winkte Maestro Giovanni Trabaci die Flöten und das
Tambour zu sich. Das Orchester begann eine Tammuriata zu spielen.
Mirella
warf sich Dario mit einer übermütigen Drehung in die Arme: Das war ihr Tanz.
Nach kaum einer Minute wichen die anderen Paare eines nach dem anderen an den
Rand des Ballsaals zurück. Dario ließ Mirella los und überließ ihr alleine die
Tanzfläche. Sie reckte den Kopf noch höher, raffte ihre Röcke bis über die
Knöchel und gab dem Kapellmeister einen Wink. Maestro Trabaci nickte mit einem
breiten Grinsen und ließ ein wenig schneller spielen. Die ersten Locken
rutschten aus Mirellas kunstvoll hochgesteckter Frisur auf ihre Schultern und
eine silberne Haarnadel fiel leise klirrend auf den Marmorboden.
Dann
war der Tanz zu Ende. Mirellas lachte vergnügt und drehte sich noch einmal.
Ihre Wangen hatten sich erhitzt, aber ihr Atem ging gleichmäßig wie zuvor.
Jedenfalls ist Dario immer wieder zu irgendwelchen geheimen
Treffen verschwunden, von denen man nichts erfährt. Den Vater interessiert das
nicht sonderlich, aber Mirella macht sich fürchterliche Sorgen, weil dadurch
die Hochzeit zwischen ihrem Bruder und ihrer besten Freundin Stefania platzen
könnte. Außerdem soll Dario Verantwortung übernehmen, denn schließlich ist
Stefania schwanger. Das weiß zwar nur Mirella, aber eigentlich wissen's doch
alle, besonders die Mutter. Die macht im Übrigen die größte Entwicklung durch,
denn zum Schluss weiß sie alles, was auch die auktoriale Erzählerin weiß, wie
auch alle anderen Figuren in der Schlussszene.
Dario ist jedenfalls der Bösewicht, denn nachdem er verraten
wurde, weil er woanders lang ritt als sonst, schwört er Rache. Er will seine
Eltern und die Eltern seiner Verlobten und Mirella und alle sonstigen Besucher
der Ostermesse in der Kirche in die Luft sprengen. Zum Glück hat Mirella vorher schon alles herausbekommen. Aber
was danach passiert, will ich noch nicht verraten.
Mirella ist fürchterlich verliebt in den jungen und hübschen
Alexandre, der immer zur rechten Zeit da ist, aber eigentlich nichts von ihr
wissen will. Dennoch lässt sie sich von ihm retten, als sie nach dem
vereitelten Anschlag in einer Taverne verschwindet, um den Leuten dort zu
sagen, was sie alles weiß. Erst wissen die Leute gar nicht, wer sie ist, aber dann wissen sie es doch und nehmen sie
gefangen.
Ihre Eltern lassen gleich nach ihr suchen. Doch Christina,
die mit der Patrizierfamilie nichts zu tun hat, weiß sofort wo Mirella zu
finden ist und schickt Alexandre, weil der glücklicherweise überall ist, wo man
ihn braucht, um sie zu retten. Mirella fragt Alexandre, ob er sie zu seiner
Hochzeit in Frankreich einlädt, nachdem sie erfährt, dass die Franzosen Neapel
wieder verlassen wollen.
Und dass die Franzosen überhaupt in Neapel waren kam so:
Neapel wird ja von Spanien regiert, aber das Volk ist
unzufrieden mit der Gabelle, deswegen zünden sie das Tuchlager von Mirellas
Familie, den Scandores an, weswegen Dario diese heimlichen Sachen macht (wie
man mittlerweile weiß, plant er den Anschlag auf seine Eltern, Mirella und alle
anderen außer Stefania). Dann kommen die Franzosen und ihr Anführer De Guise
wird zum Dogen ernannt. Das stört die
Spanier aber zunächst nicht weiter. Denn erst mal gibt es einen Ball und
Mirella weiß nicht, was sie anziehen soll. Außerdem hat Mirella während der
offiziellen Ernennung De Guise zum Dogen Alexandre zum ersten Mal gesehen.
Abschließend möchte ich sagen, dass ich es zum einen schade
finde, dass man die Geschichte ausschließlich aus Mirellas Sicht erlebt. Die
auktoriale Erzählweise bietet es ja an, auch in die Geschichten der anderen
Figuren einzusteigen. Ich wäre zu gern mal bei einem von Darios Geheimtreffen
dabei gewesen oder hätte den dubiosen Strippenzieher Annese besser kennen
gelernt oder etwas von den Kämpfen zwischen den Spaniern und Franzosen
mitbekommen. Stattdessen erfährt man das alles nur aus zweiter Hand bzw. durch
Mirellas Mund und durch das entfernte Donnern der Kanonen, wie in einem
Theaterstück.
Zum anderen hätte ich mir einige Erklärungen zu den
Besonderheiten aus der Zeit doch gern schon im Buch über die Erzählung gewünscht.
In Historienromanen ist es zudem nicht unüblich, auch mal Fußnoten zu benutzen.
Zumindest um ein paar italienische Begriffe zu erläutern.
Aber auch ein paar Sachverhalte hätten mich genauer
interessiert. So geht zum Beispiel die Fensterscheibe einer Kutsche zu Bruch.
Wenn es damals schon Fensterscheiben bei Kutschen gab, hätte ich gern mehr
darüber gewusst, denn ich halte es für etwas Besonderes.
Auch hätte mich interessiert, wie Weihnachten zur Zeit der
königlichen Republik aussah. Wie wurde dieses Fest damals in Italien gefeiert?
Einen Weihnachtsbaum gab es wohl nicht. Aber machte man sich Geschenke oder ist
das eine Erfindung der Moderne? Gab es
den Heiligen Abend und die beiden Weihnachtsfeiertage? Und kam damals am 6.
Januar schon die Befana?
Es mag zwar manchen abschrecken, zu viele Beschreibungen
lesen zu müssen, aber ich finde, das gehört zu einem historischen Roman
unbedingt dazu. Ich möchte eintauchen in eine unbekannte Welt und mich dabei
von den Beschreibungen verwöhnen lassen.
Das gilt vor allem für den Tanz und die Musik, wenn es schon
Mirellas große Leidenschaft ist. Wenn ich sie aber weder hören noch sehen
kann, dann will ich sie zumindest durch
ihre Beschreibung erleben. Dass ich nach Tammuriata
googeln muss,
genügt mir nicht.
Bei
einem Maskenball zum Mardi Gras, zu dem der Doge die Scandores einlädt, sind
die Gäste auch als Türken, Chinesen oder Bären verkleidet. War das üblich im
17. Jahrhundert? Auch dass man überhaupt an Fasching-Dienstag Bälle
veranstaltete und dass der Faschings-Dienstag in Neapel Mardi Gras genannt
wurde (wahrscheinlich durch die Franzosen)?
Für
Venedig ist das ja ganz gut dokumentiert. Dort feierte man ab dem giovedi
grasso (Schmutziger Donnerstag) und trug vor allem die klassischen Masken, die
bestimmte Typen aus dem Volk repräsentierten, wie den Harlekin mit
seinem Flickenanzug, die schlaue Colombina, der einfallsreiche Diener
Brighella, die Pulcinella (mit einem
Fragezeichen aus Makkaroni), der eitle Dottore oder der prahlerische Capitano.
Dann gibt es noch eine Szene, bei der ich mir gewünscht
hätte, mehr darüber zu erfahren, wie weit diese Kultur im 17 Jahrhundert
vorangeschritten war und wie sie zu dieser Zeit gepflegt wurde: Das
Kaffeetrinken.
In dieser Szene gehen während des Prozesses gegen Dario die
Scandores in einer Gerichtspause mit dem Avvocato essen. Der winkt nach dem
Essen in einem Satz nach dem Kellner, ihm noch einen Kaffee zu bringen.
War es 1648 schon üblich, dass es nach dem Essen - so wie
heute direkt im Gasthaus - noch einen Kaffee gab? Oder ist man dafür in besondere
Kaffeehäuser gegangen? Und sagte man einfach ‚Kaffee‘ oder wie hieß er damals?
Gab es schon Espresso und Cappuccino oder trank man ihn noch ganz traditionell
wie einen Mokka mit viel Zucker?
Ich hätte auch gern mehr über das Verhältnis zwischen
Bürgern und dem Adel erfahren. Mirella erzählt einmal, wie sie ihre Freundin
Stefania zur Schule abgeholt hat. Wie frei konnten sich Patriziertöchter damals
bewegen? War es normal, dass sie zu einer Schule gingen? War es normal, dass
sie im Dogenpalast Billard spielen gingen? Und war es dann normal, dass Mirella
sich nicht ohne Kutsche und dessen Fahrer in der Stadt blicken lassen konnte
und durfte?
Annemarie Nikolaus ist Historikerin. Das merkt man ihrem
Blog an. Ich habe dort noch einiges über die „Königliche Republik“ nachlesen
können. Den Rest muss ich dann mal googeln…
Ansonsten war ich sehr überrascht, dass die „Königliche
Republik“ von Quindie zum besten Buch des Monats gewählt wurde.
HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH!!!
Die "Königliche Republik" bei Amazon
Historische Hintergründe in Annes Werkstatt
PS: Diese Rezension wurde in Übereinstimmung mit der Autorin
veröffentlicht.
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