Mit Metzingers neuen Philosophie des Selbst erhält eine
Erkenntnistheorie frischen Wind, die, die verschiedenen
naturwissenschaftlichen Disziplinen vereinend, bei den einzelnen
Disziplinen eher unbeliebt war und kritisiert wurde: der
Konstruktivismus. Bereits in den 1960er Jahren beschrieben die
Österreicher Heinz von Förster, Ernst von Glasersfeld und Paul
Watzlawick die Welt, so wie sie vom Menschen wahrgenommen wird, als eine
subjektive Konstruktion, ersten Ranges als eine Konstruktionsleistung
des Gehirns und 2. Ranges als eine Konstruktionsleistung des bewussten
Subjekts, letzteres die Hauptursache für Missverständnisse und die
unterschiedlichen Theorien und Ansichten über die Welt. Von Förster und
von Glasersfeld beschreiben den Konstruktivismus aus der Sicht des
Physikers und Kybernetikers, Watzlawick aus der Sicht des Psychologen
und Therapeuten. In den 1970ern kommen die chilenischen Biologen
Francisco Varela und Humberto Maturana mit ihrem Konzept der
Selbstorganisation und der Biologie der Realität hinzu. Mit der
Systemtheorie Niklas Luhmanns sei ein weiterer Hauptvertreter genannt.
Metzingers Ideen über das Selbst sind also nicht so neu, bekommen aber
durch die jüngere Entwicklung in der Hirnforschung und den
populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen Wolf Singers wieder neue
Bedeutung. Und das ist gut so, denn ich halte diese Erkenntnistheorie
für die Schlüssigste zur Beschreibung des Menschen, seines Bewusstseins
und seiner Positionierung in der Welt. Sie hilft meines Erachtens zu
verstehen, dass der Mensch keinen Zugang zu einer objektiven Wahrheit
hat und daher auch keinen Anspruch darauf erheben sollte. Hierdurch wird
verständlich, warum es sowohl in kleinsten wie auch in großen
Gesellschaften zu unterschiedlichen Wirklichkeitsdeutungen kommen kann.
Vielleicht sieht man mit diesem Wissen davon ab, sich über Deutungen zu
streiten, sei es aus privaten, ideologischen oder religiösen Gründen.
Metzingers Buch ist somit nicht nur ein gut geschriebenes und
verständliches Buch über das menschliche Bewusstsein sondern auch ein
wichtiger Beitrag für die nächste Aufklärungsstufe.
Thomas Metzinger
Der Ego-Tunnel: Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik
384 Seiten, Berlin Verlag Taschenbuch (6. November 2010)
mehr zu Thomas Metzinger
...
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen